Der folgende Text von Frau Dr. Evers wurde anläßlich der Ausstellung "Wandlungen einer Doppelnatur" in der Galerie Lichtblick, 1986 in Köln, geschrieben. 1987 kuratierte Frau Dr. Evers in Bonn eine Ausstellung der Galerie "Die Wand", an der Lips mit zwei Arbeiten teilnahm.

Dr. Ulrika Evers

Roger Lips - Wandlungen einer Doppelnatur

Roger Lips zeigt in dieser Ausstellung vor allem Köpfe bzw. Menschenbilder, Schnappschüsse von der Straße, die weiterbearbeitet werden und denen er korrespondierend ein auf den ersten Blick eher abstraktes, malerisches Bild beigibt.

Zwar hat Roger Lips sein Diplom als Designer an der Folkwangschule in Essen gemacht, doch war er stets mehr fotografischen und dann - gleichgewichtig - malerischen Aspekten zugewandt, denen er in abstrakten, fast informelhaften "Kritzeleien" Raum gab und die er in seinen Fotos mit Hilfe bestimmter Techniken umsetzt.

o.T., 1985

Technische Prozesse, mit denen Roger Lips jongliert, spielen nur auf den ersten Blick eine Rolle, zum Wecken eines ersten Interesses: überzogene Vergrößerung, das Wegkratzen von Schichten, das Hineinzeichnen ins Foto, Ober- oder Unterbelichtung, Fortsetzung der Entwicklung des Negativs, Strukturauflösungen, mehrfache farbige Unterlegungen eines Motivs. Immer ist die Technik Mittel zum Zweck, erhebt sich nie zum dekorativen Eigenleben, wohin gerade die technisch bearbeitete Fotografie oft gefährlich abzudriften droht.

Durch das überzogene Herausvergrößern bestimmter, ihm wichtiger Bildausschnitte, das das grobe Korn des Rasters sichtbar macht, entsteht eine Verunklärung, ein Verschwimmen des Objektes, was den Betrachter dazu bringt, näher und nochmal hinzusehen, um zu ergründen, worum es eigentlich geht. Denn Roger Lips gibt dem Betrachter ganz schön rätselhafte Bildgeschichten auf. Um dies an einem Beispiel zu belegen: Ein etwas bulliger Mann (ein Boxer?), der mit nacktem Oberkörper eher wie ein brutaler Macho wirkt, ist durch Verunklärung so weich gezeichnet, daß er fast verletzlich wirkt in seiner Nacktheit. Nacktheit und Bulligkeit des Mannes treten in eine merkwürdige Ambivalenz zueinander, der Mann ist nicht wirklich festlegbar, kaum überhaupt faßbar, damit seine "Doppelnatur" erläuternd.

o.T. (Triptychon), 1985
o.T., 1985

Auch das Wegkratzen der Schichten etwa eines Porträts macht unmittelbar deutlich, was gemeint ist, der Blick hinter die Spiegel, die Suche nach dem, was in den Menschen steckt, die wahre Persönlichkeit. Oft genug versinkt der Dargestellte auf den Fotos ins Nichts oder - alles ist möglich - wird zum erschreckenden Dämon, zum Totem, zur Maske, zur Ikone und Madonna, zur blutstarrenden Fratze.

Immer handelt es sich bei den Dargestellten um Männer, denen eine gewisse erotische Ausstrahlung eigen ist, allerdings immer überlagert von verschiedenen Gemütsbewegungen oder existentieller Mimik wie Selbstvergessenheit, Schmollen, Leid. Um alle jedoch legt sich eine Aura von Trauer.

In einige Fotos ist weiß hineingezeichnet bzw. gekratzt, so daß eine bewußt zeichenhafte Ebene entsteht und die "Wirklichkeit" der Fotos aufgelöst wird: Spinnweben, Schlangen, Kritzelmännchen und abstrakte Zeichen. Die Schlange über der Stirn des Bauarbeiters braucht schon keine Erklärung mehr.

Die zeichenhafte und die malerische Komponente spielen in der Arbeit von Roger Lips eine wichtige Rolle, er fühlt sich nicht als Fotograf und ist es im klassischen Sinne von seiner Ausbildung und seiner Art und Weise, wie er sich diesem Medium schrittweise genähert hat, auch nicht.

beide: o.T., 1985

 

 

 

Roger Lips zeigt und hinterfragt in diesen Fotos, für die er hinweisende Titel ablehnt, verschiedene Ausprägungen des menschlichen Seins, aber auch wie man einen Menschen wahrnimmt, das Schwankende eines Augen-Blicks, in dem so schnell über Sympathie oder Ablehnung entschieden wird, im Grunde oft wegen eines winzigen Details. Die in dieser Ausstellung besondere Zusammenstellung von zwei Fotos, die miteinander zu tun haben, obwohl sie nicht von Anfang an so konzipiert waren, betont zudem Gruppenkonstellationen. Die Arbeiten untersuchen, wie Personen zueinander in Beziehung treten, und zeigen das Sowohl-als-Auch einer Person, ihre Ergänzung oder Aufhebung. Alles Menschliche hat eine "Doppelnatur", niemand ist auf nur eine Sache festlegbar, was eine Ausprägung von Freiheit sein kann, aber auch des Leidens, das man am und durch den anderen erfährt.